ANHELL69

Eigentlich hätte ein Spielfilm entstehen sollen. Eine Geistergeschichte, in der die Toten mit den Lebenden koexistieren und sexuelle Beziehungen zueinander haben. Montiert werden Castings, geisterhafte Begegnungen und extravagante Partyszenen. Substanzen, Exzess und die ständige Präsenz des Todes sind vorherrschend. Ein Leichenwagen fährt durch die Straßen, darin die lebendige Leiche des Regisseurs. Theo Montoya erzählt in seinem Regiedebüt vom Erwachsenwerden in Medellín – einer Stadt, die einem Friedhof gleicht. Eine Stadt ohne Väter, eine konservative, gewalttätige Stadt. Versatzstücke queerer Subkultur, Fiktionen und Erinnerungen einer queeren Generation, für die es in der repressiven Mehrheitsgesellschaft Medellíns keinen Platz gibt. Ein gnadenloses Manifest zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbegehren.

KEIKO, ME WO SUMASETE

Basierend auf der Autobiografie der Gehörlosen Profiboxerin Keiko Ogasawara zeichnet Shô Miyake in KEIKO, ME WO SUMASETE eine beeindruckende Charakterstudie der willensstarken Boxerin Keiko, deren unbändiger Kampfgeist und Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt wird, als sie sich neben den Kämpfen im Boxring beruflichen und emotionalen Herausforderungen stellen muss. Die Gesundheitsprobleme und das schwindende Augenlicht ihres Coachs überschatten zunehmend den Trainingsalltag. Die Situation spitzt sich zu, als die Schließung ihres Gyms in Tokio im Raum steht und der wohlwollende Support seitens ihres Bruders in allen Lebenslagen auf der Kippe steht. Gedreht auf 16mm in einem historischen Stadtteil von Downtown Tokio, erzählt der Film mit messerscharfer Präzision und mit feinstem Gespür von Entscheidungshorizonten im beeindruckenden Leben einer jungen Erwachsenen.

EL ROSTRO DE LA MEDUSA

Marina wacht eines Morgens auf. Im Spiegel erkennt sie sich selbst nicht wieder. Ein ihr völlig unbekanntes Gesicht blickt ihr entgegen. Marina flüchtet sich ins Haus ihrer Eltern, wo sie die Fotoalben der Familie auf Ähnlichkeiten zwischen ihr und den Fotos ihrer Familie durchforstet. Zur Überprüfung ihrer Identität muss sie sich unüberbrückbaren Hürden bei Behörden stellen, auch die Suche nach einer Erklärung mit ärztlicher Unterstützung verläuft ins Leere und lässt sie ratlos zurück. Je mehr Zeit vergeht, umso stärker drängt sich die Frage auf, wer Marina denn ist, wenn sie ihrer Familie nicht mehr ähnlich sieht. Es eröffnet sich ein neues Leben, eines, das auf der Auseinandersetzung gründet, inwiefern unser Aussehen mit unserem Selbst und unserer Persönlichkeit zusammenhängt, welche Rolle andere nahestehende Personen dabei übernehmen und was Transition und Identitätsänderung in all ihren Facetten eigentlich bedeuten. THE FACE OF THE JELLYFISH ist eine komisch-absurde Konfrontation mit diesem neuen Verständnis von menschlicher Identität, auch ein augenzwinkernd grotesker Vergleich von Säugetieren, Reptilien, Vögeln und Wassertieren aller Art kommt dabei nicht zu kurz.

ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE

Während Bambino und Bawa tagelang gemeinsam durch Lagos streifen, um die zahlreichen Facetten der Stadt zu fotografieren, entspinnt sich zwischen den beiden ein unerwartetes Beziehungsgeflecht, eine Annäherung unterschiedlicher Erfahrungswelten. Konzentrierte, ruhige Bilder und ein unaufdringliches Farbspiel lassen die Sinnlichkeit und Nähe der beiden zueinander laut werden. Im Aufkeimen einer zärtlichen Liebe werden die Widersprüchlichkeiten, Feindseligkeiten und komplexen Politiken vor Ort beinahe greifbar. Die Millionenstadt Lagos tritt als Schauplatz ungehalten und gewaltvoll in Gestalt, während in ihren Zwischenräumen Möglichkeitsformen der Freiheit erkundet werden. In seinem politisch höchst brisanten und zutiefst aufwühlenden Spielfilmdebüt erzählt Babatunde Apalowo von Liebe, und von Liebe, die nicht gelebt werden kann.

WOS TUR I? ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT DES ERZÄHLENS

Erzählen als unermüdliche, widerständige, zutiefst feministische Praxis. Erzählen der eigenen Geschichte, Erzählen dessen, was allzu oft nicht gehört werden will. Maria Cäsar hat nie aufgehört zu erzählen. Übers Sprechen und Nicht-Sprechen im richtigen Moment. Über den Faschismus und über den Widerstand. Als Feministin und kommunistische Widerstandskämpferin hat sie sich dem antifaschistischen Kampf bis zu ihrem Tod im Jahr 2017 verschrieben. Barbara Wilding und ihre Editorin Maria Otter verdichten Aufnahmen aus dem Archiv mit Gesprächen über das Weiterwirken dieser Erzählpraxis im Jetzt. Ausgehend von der Frage „Wos tur I?“, mit der sie sich in der Steiermark in den 1930er Jahren angesichts des aufkeimenden Faschismus konfrontiert sah, erzählt Maria Cäsar sich im Film selbst, quer durch unterschiedliche Zeiten, Momente und Kontexte. Als Zeitzeugin bei Fanta und Chips mit Jugendlichen, im Fernsehinterview, beim Spritzertrinken mit Genossinnen und in ihrer Rolle im persönlichen und politischen Umfeld. Es entsteht das Bild einer Kämpferin, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Dringlichkeit des fortwährenden Kampfes gegen den Faschismus und die Notwendigkeit des Erzählens über das Unaussprechbare für immer bestehen bleiben.

L’ÎLOT

Am Rande eines Arbeiter_innenviertels in Lausanne sollen sich an einem Fluss nachts mysteriöse Dinge zugetragen haben. Nun ist es an den beiden Wachmännern Ammar und Daniel, Tag und Nacht ihre Runden zu drehen und die Gegend zu sichern. Ammar ist neu im Job. Im Spazieren vertiefen sie sich in einen kollegialen Austausch über Zugehörigkeiten und neue Anfänge. Gemeinsame kontemplative Rundgänge, die zwischen Komik und Absurdität schwanken. Während sie nach dem Rechten sehen, werden sie von den Balkonen der umliegenden Wohnblöcke kritisch beäugt. Ein Spiel zwischen Beobachten und Beobachtet-werden entsteht. Im Spannungsfeld alltäglicher Banalität und magischem Realismus inszeniert Tizian Büchi die Geschichte einer Freundschaft zweier Wachleute und hinterfragt dabei subtil die Sicherheitsfantasien einer Überwachungsgesellschaft.

UN PETIT FRÈRE

Rose zieht mit ihren beiden Söhnen Jean und Ernest Anfang der 1980er Jahre von Abidjan nach Paris. Zwischen Unabhängigkeit, Lohnarbeit, Herzschmerz und der Herausforderung, als alleinerziehender Elternteil ihren Kindern genügend Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteil werden zu lassen, entstehen Fugen, in denen sie immer wieder verschwindet. UN PETIT FRÈRE erzählt die sich über zwei Jahrzehnte erstreckende intime Geschichte einer Familie. Zeitsprünge und Perspektivenwechsel quer durch unterschiedliche Lebensabschnitte verdeutlichen die wechselhafte Beziehung zwischen den drei Protagonist_innen. In Schichten legt sich das Erleben der Figuren übereinander und ergibt ein teils dissonantes Bild einer komplexen, geteilten Erfahrungswelt. In berührenden Erzählgesten werden die Übergangszonen zwischen Aufwachsen, Zusammenleben und Auseinanderdriften erkundet. Nähe und Distanz auf engem Raum, zwischen der Metropole Paris und der Hafenstadt Rouen in der französischen Normandie. Subjektive Strategien im Bewältigen und Gestalten von Leben und Alltag, im Zeichnen einer Zukunft und im Streben nach Verbundenheit und Intimität. Ein Dreiergespann, das Formen von Gemeinschaft in stetiger Veränderung neu erfindet.

NAJSREЌNIOT ČOVEK NA SVETOT

Asja und Zoran, beide etwa Mitte vierzig, leben in Sarajevo und treffen einander an einem Samstagnachmittag bei einem Speed-Dating-Event in einem brutalistischen Hotelbau aus den 1980er Jahren. Ein Ausflug zu einem retro-futuristischen Ort, an dem eine retro-futuristische Veranstaltung stattfindet. In mehreren Runden stellen Paare einander unter Anleitung Fragen zu Lieblingsfarben und -geschmäckern sowie bevorzugten Jahreszeiten. In choreografierten Erzählbewegungen fallen Runde für Runde die persönlichen Schutzschichten der Teilnehmenden, unter denen schmerzhafte Erfahrungswelten aus ihrer Vergangenheit ans Tageslicht kommen. Gräben zwischen Betroffenheit und Schuld tun sich auf wie Kluften in der von 1992 bis 1996 für 1425 Tage belagerten Stadt Sarajevo. Basierend auf wahren Begebenheiten erzählt Teona Strugar Mitevskas Film von zufälligen Begegnungen, die die Traumata der Vergangenheit wieder aufleben lassen. NAJSREЌNIOT ČOVEK NA SVETOT ist eine Geschichte über die Unmöglichkeit, Verbindungen aufzubauen, über das amorphe Weiterwirken von Krieg, über Liebe und Absurdität. Ein filmisches Liebesgedicht an eine Stadt und deren offene Wunden.

THE TUBA THIEVES

Zwischen 2011 und 2013 verschwinden auf mysteriöse Weise Tubas aus Musikschulen in Los Angeles. Der Film begleitet Nyke Prince und Geovanny Marroquin, die fiktionalisierte Versionen ihrer selbst verkörpern, über die Jahre der Überfälle. In ihrem Debütfilm nähert sich Alison O’Daniel den Auswirkungen dieser Ereignisse aus einer unerwarteten Perspektive. Denn um gestohlene Tubas geht es eigentlich nicht, sondern vielmehr darum, was es bedeutet, zuzuhören. Die Geschichten der Protagonist_innen werden mit Reenactments von avantgardistischen Konzerten verschränkt, die „Stille“ zelebrieren – etwa John Cages 1952 uraufgeführtes Werk 4’33”. Den erzählerischen Faden zwischen Zeiten und Orten bildet nicht nur das Verhältnis von Gehörlosigkeit zur Musik, sondern auch ein Gefühl dafür, wie Menschen, Tiere, Pflanzen und die Umwelt durch Klang, Musik, Lärm und die Anwesenheit ihrer vermeintlichen Abwesenheit beeinflusst und verbunden sind. Aus dieser vielschichtig-hybriden Kinematografie entsteht ein warmherziges und ausgelassenes Porträt einer Gruppe an Gehörlosen Protagonist_innen in Los Angeles.

MUTT

An einem New Yorker Sommertag begleiten wir Feña im Hin und Her zwischen unbekannten Wohnungen und einem leeren Gastank, vergessenen Wohnungsschlüsseln und Geldbörsen. Über eine Zeitspanne von 24 Stunden nehmen wir in diesem liebenswürdigen Setting aus Chaos und Hektik teil an Feñas stetem Zögern, Nähe zu liebgewonnenen Menschen und auch sich selbst zuzulassen oder Distanz aufzubauen. Im Aufeinandertreffen mit dem Ex-Partner, dem plötzlichen Auftauchen der jüngeren Schwester und der Organisation eines Besuchs des Vaters aus Chile stellt sich für Feña die Herausforderung, durch Beziehungskonstellationen zu navigieren, die sich in einem Dazwischen aus Vergangenem und dessen Relevanz in der Jetztzeit abspielen. In Feñas Ausloten intimer Beziehungen konfrontiert uns Vuk Lungulov-Klotz im Debütfilm MUTT mit einer zutiefst menschlichen Erfahrungsdimension von Liebe, Gender und einem Dazwischen von Trans-ness und dem Leben als solches.