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KEIKO, ME WO SUMASETE

Basierend auf der Autobiografie der Gehörlosen Profiboxerin Keiko Ogasawara zeichnet Shô Miyake in KEIKO, ME WO SUMASETE eine beeindruckende Charakterstudie der willensstarken Boxerin Keiko, deren unbändiger Kampfgeist und Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt wird, als sie sich neben den Kämpfen im Boxring beruflichen und emotionalen Herausforderungen stellen muss. Die Gesundheitsprobleme und das schwindende Augenlicht ihres Coachs überschatten zunehmend den Trainingsalltag. Die Situation spitzt sich zu, als die Schließung ihres Gyms in Tokio im Raum steht und der wohlwollende Support seitens ihres Bruders in allen Lebenslagen auf der Kippe steht. Gedreht auf 16mm in einem historischen Stadtteil von Downtown Tokio, erzählt der Film mit messerscharfer Präzision und mit feinstem Gespür von Entscheidungshorizonten im beeindruckenden Leben einer jungen Erwachsenen.

L’ÎLOT

Am Rande eines Arbeiter_innenviertels in Lausanne sollen sich an einem Fluss nachts mysteriöse Dinge zugetragen haben. Nun ist es an den beiden Wachmännern Ammar und Daniel, Tag und Nacht ihre Runden zu drehen und die Gegend zu sichern. Ammar ist neu im Job. Im Spazieren vertiefen sie sich in einen kollegialen Austausch über Zugehörigkeiten und neue Anfänge. Gemeinsame kontemplative Rundgänge, die zwischen Komik und Absurdität schwanken. Während sie nach dem Rechten sehen, werden sie von den Balkonen der umliegenden Wohnblöcke kritisch beäugt. Ein Spiel zwischen Beobachten und Beobachtet-werden entsteht. Im Spannungsfeld alltäglicher Banalität und magischem Realismus inszeniert Tizian Büchi die Geschichte einer Freundschaft zweier Wachleute und hinterfragt dabei subtil die Sicherheitsfantasien einer Überwachungsgesellschaft.

GIVE ME LIBERTY

Milwaukee, USA. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, kämpft Fahrtendienstmitarbeiter Vic gegen die Umstände und die Zeit. Ausgerechnet an diesem ohnehin schon dichten Arbeitstag müssen sein aus Russland emigrierter Großvater und dessen Freund_innen zu einem Begräbnis chauffiert werden. Auch sie finden in Vics Kleinbus und in der improvisierten Zweckgemeinschaft Platz. Weil die Straßen auf ihrer üblichen Route aufgrund von Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt gesperrt sind, muss Vic umdenken. Im Versuch, das sich anbahnende Chaos zu kontrollieren, verzettelt er sich zunehmend in Verpflichtungen, Beschwichtigungen, Bedürfnissen der ihm anvertrauten Passagier_innen und eigenen Träumen. Kirill Mikhanovskys turbulentes wie berührendes Großstadt-Roadmovie GIVE ME LIBERTY ist eine kinetische Erfahrung von immenser Wucht und Wahrhaftigkeit. Die neue Route ist gesäumt von jenen kleinen magischen Momenten zwischenmenschlicher Begegnungen und Solidarität, die uns durch den Tag tragen – auch wenn man zunächst bereut hat, überhaupt aufgestanden zu sein. (lm)

FREDA

Inspiriert von persönlichen Erfahrungen, öffnet uns Gessica Généus mit ihrem Spielfilmdebüt die Türen zu einer Familiengeschichte inmitten des vibrierenden Port-au-Prince. FREDA zeichnet die Beziehung der gleichnamigen Protagonistin zu ihrer älteren Schwester Esther und zu ihrer alleinerziehenden Mutter Jeannette, deren Lebenseinstellungen und Aspirationen ans Leben völlig konträre Richtungen aufweisen. Die Komplexität wirtschaftlicher Herausforderungen, patriarchaler Gesellschaftsstrukturen und politischer Instabilität stellen das Bleiben in Frage. Allen Widrigkeiten zum Trotz kämpft Freda, deren Name auf die Vodou-Göttin für Liebe und Fülle verweist, kompromisslos und zielstrebig für eine Existenz in Haiti. Die dokumentarischen Aufnahmen der Proteste in den Straßen von Port-au-Prince von 2018 gegen die Veruntreuung von PetroCaribe-Erdöllieferungen geben dem sozialen Aufbegehren durch ihre Unmittelbarkeit ein Gesicht. (dp)

EUROPE

Krankenhaus. Post. Schwimmbad. Nächste Haltestelle: Europe, eine Siedlung am Stadtrand von Châtellerault. Das Leben von Zohra spielt sich genau dort ab, zwischen ihrer Wohnung, dem Kebabladen und Familienbesuchen in Europe, dem Krankenhaus und dem Pool. Es ist Sommer, die Straßen sind leer, es ist Urlaubszeit in Frankreich. Die Sonne heizt den Asphalt auf und der Pool bringt nicht nur Erfrischung. Die ersehnte Reise nach Algerien und das Visum ihres Mannes Hocine müssen warten. Zohra bekommt keine Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung und verliert ihre Arbeit und ihre Wohnung. Die Perspektive wechselt und Zohra ringt damit, die gelebte Normalität zurückzuholen und aus der Unsichtbarkeit aufzutauchen. Im Kampf um einen Platz in Europa lassen imaginierte Zukunftsszenarien sie auf geisterhafte Weise transparent werden. (mch)

LA MIF

Alltag in einer Mädchen-Wohngemeinschaft in Genf. Schminken, Rauchen, Schimpfen und laute Musik. Konflikte und klärende Gespräche unter den Mädchen und Betreuer_innen gehören auch dazu. Die Darstellerinnen der Mädchen Audrey, Novinha, Précieuse, Justine, Alison, Caroline und Tamra, deren Biografien und Beziehungen untereinander sich nach und nach entfalten, stehen größtenteils zum ersten Mal vor der Kamera und teilen ungehemmt ihre junge Gefühlswelt. Die Dialoge sind teils improvisiert, teils von den jungen Schauspieler_innen selbst geschrieben, die Grenzen zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm verschwimmen. In wiederkehrenden Sequenzen wie elliptischen Zeitschleifen, tauchen wir immer tiefer in die aufwühlenden Realitäten der Mädchen ein, während die Heimleiterin Lora mit den Mängeln des Jugendschutzsystems kämpft. (mch)

DIDA

Ein charmant chaotisches Hin und Her, zwischen Belgrad und der Schweiz. Hier Mutter und Großmutter, dort Partner_innenschaft und ein großer Teil des eigenen Seins. Alltag zwischen unterschiedlichen Städten, Bedürfnissen und Geschwindigkeiten. Nachdem die Großmutter, die ihr Leben lang für seine Mutter Sorge trug, in Belgrad stirbt, verschieben sich für Nikola Verantwortlichkeiten und Prioritäten. Ausgeschnapst werden nun Bedingungen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, die der eigenen und die von Dida, Nikolas Mutter. Grenzgänge im ständigen Scheitern und Nachjustieren. Die Beteiligten verlieren dabei zwar nie Liebe und Witz, aber manchmal kurz sich selbst. Videotelefonate und Schnaps am Grab. Wohnungswechsel, ein rotes Sofa, Fleecedeckentürme, ein Babyhund und Dekokram. Stetig wird im Familiengefüge umdekoriert auf der ewigen Baustelle Leben. (dca)

KRAI

Mit dem Vorhaben einen »historischen Film« drehen zu wollen, reist der in Russland geborene Regisseur Aleksey Lapin mit einem Filmteam von Wien nach Jutanovka, jenes nahe bei der ukrainischen Grenze liegende Heimatdorf seiner Verwandten, in dem er früher selbst jeden Sommer verbracht hat. Inmitten der Dorfrealität von Volksfest, Kirchgang und Arbeitsalltag entsteht ein filmisches Spiel zwischen Team und Dorfgemeinschaft. Ein Casting wird abgehalten, am Fluss über das Kino sinniert und der Drehprozess selbst reflektiert. Krai bedeutet auf Russisch Rand oder Grenze. Mit feiner Ironie und liebevollem Interesse für Wunderliches wandelt auch der Film an den Grenzen von Dokumentarfilm und Spielfilm, zeitlos und zeitnah zugleich in Schwarzweiß gesetzt. Zwischen inszenierten Szenen und alltäglichen Beobachtungen entsteht ein Bild der Realität, das sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht. Über ihm steht die Vision: »Das Kino muss verschiedene Welten zusammenbringen, unterschiedliche Leute verbinden. Und uns am Ende daran erinnern, dass wir Teil einer Menschheit sind.« (lm)

UNCOMFORTABLY COMFORTABLE

Brooklyn, New York. Eine Vereinbarung zwischen Filmemacherin und Protagonist. Eine ständige Ausverhandlung von Nähe und Distanz. Textnachrichten und Notizen am Fahrradlenker, Verabredungen in der Bibliothek und gemeinsame Fahrten durch die Stadtlandschaft. Marc Thompson spricht über Unausweichlichkeiten in einem rassistischen System. Über die Funktion von Gefängnismauern, strukturelle Gewalt unsichtbar zu halten. Über das Stigma von Wohnungslosigkeit, die Scham über Vergangenes und das (Um-)Schreiben der eigenen Geschichte. Beobachtungen, prosaische Momente, Fragmente von Erinnerung und Traumata. Alleine in Bewegung. Routinen und Brüche – Rituale im Fitnesscenter, im Waschsalon, Autoreparaturen, ein kurzer Krankenhausaufenthalt. Sehnsucht – nach Verbindung, nach Teilhabe, nach Bewegung – nach Leben. Klar, ruhig und angespannt, inmitten einer lauten, schnellen Stadt. (dca)

QUE DIEU TE PROTÈGE

In den 1960er Jahren migrierten die jüdischen Großeltern der Filmemacherin Cléo Cohen von Algerien und Tunesien nach Frankreich. In ihrem Debütfilm QUE DIEU TE PROTÈGE begibt sie sich auf Spurensuche in ihrer eigenen Familiengeschichte, um der Frage auf den Grund zu gehen, ob sie sich entscheiden muss zwischen jüdischem und arabischem kulturellen Erbe. Mit einer gehörigen Portion Humor dokumentiert Cléo Cohen die Gespräche mit ihren vier Großeltern, die weit weniger auskunftsfreudig sind als erhofft und den Enthusiasmus der Enkelin kaum erwidern. Ihre Suche, durch die sie sich zeitweise in Gedanken, in den Schriften von Albert Memmi zu Dekolonisierung, in der Badewanne und in Tanzsequenzen treiben lässt, führt die Filmemacherin schlussendlich in ein völlig verändertes Tunis, wo sie nicht das vorfindet, was ihre Großmutter zurückgelassen hat. (dp)