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ANHELL69

Eigentlich hätte ein Spielfilm entstehen sollen. Eine Geistergeschichte, in der die Toten mit den Lebenden koexistieren und sexuelle Beziehungen zueinander haben. Montiert werden Castings, geisterhafte Begegnungen und extravagante Partyszenen. Substanzen, Exzess und die ständige Präsenz des Todes sind vorherrschend. Ein Leichenwagen fährt durch die Straßen, darin die lebendige Leiche des Regisseurs. Theo Montoya erzählt in seinem Regiedebüt vom Erwachsenwerden in Medellín – einer Stadt, die einem Friedhof gleicht. Eine Stadt ohne Väter, eine konservative, gewalttätige Stadt. Versatzstücke queerer Subkultur, Fiktionen und Erinnerungen einer queeren Generation, für die es in der repressiven Mehrheitsgesellschaft Medellíns keinen Platz gibt. Ein gnadenloses Manifest zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbegehren.

ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE

Während Bambino und Bawa tagelang gemeinsam durch Lagos streifen, um die zahlreichen Facetten der Stadt zu fotografieren, entspinnt sich zwischen den beiden ein unerwartetes Beziehungsgeflecht, eine Annäherung unterschiedlicher Erfahrungswelten. Konzentrierte, ruhige Bilder und ein unaufdringliches Farbspiel lassen die Sinnlichkeit und Nähe der beiden zueinander laut werden. Im Aufkeimen einer zärtlichen Liebe werden die Widersprüchlichkeiten, Feindseligkeiten und komplexen Politiken vor Ort beinahe greifbar. Die Millionenstadt Lagos tritt als Schauplatz ungehalten und gewaltvoll in Gestalt, während in ihren Zwischenräumen Möglichkeitsformen der Freiheit erkundet werden. In seinem politisch höchst brisanten und zutiefst aufwühlenden Spielfilmdebüt erzählt Babatunde Apalowo von Liebe, und von Liebe, die nicht gelebt werden kann.

WOS TUR I? ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT DES ERZÄHLENS

Erzählen als unermüdliche, widerständige, zutiefst feministische Praxis. Erzählen der eigenen Geschichte, Erzählen dessen, was allzu oft nicht gehört werden will. Maria Cäsar hat nie aufgehört zu erzählen. Übers Sprechen und Nicht-Sprechen im richtigen Moment. Über den Faschismus und über den Widerstand. Als Feministin und kommunistische Widerstandskämpferin hat sie sich dem antifaschistischen Kampf bis zu ihrem Tod im Jahr 2017 verschrieben. Barbara Wilding und ihre Editorin Maria Otter verdichten Aufnahmen aus dem Archiv mit Gesprächen über das Weiterwirken dieser Erzählpraxis im Jetzt. Ausgehend von der Frage „Wos tur I?“, mit der sie sich in der Steiermark in den 1930er Jahren angesichts des aufkeimenden Faschismus konfrontiert sah, erzählt Maria Cäsar sich im Film selbst, quer durch unterschiedliche Zeiten, Momente und Kontexte. Als Zeitzeugin bei Fanta und Chips mit Jugendlichen, im Fernsehinterview, beim Spritzertrinken mit Genossinnen und in ihrer Rolle im persönlichen und politischen Umfeld. Es entsteht das Bild einer Kämpferin, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Dringlichkeit des fortwährenden Kampfes gegen den Faschismus und die Notwendigkeit des Erzählens über das Unaussprechbare für immer bestehen bleiben.

UN PETIT FRÈRE

Rose zieht mit ihren beiden Söhnen Jean und Ernest Anfang der 1980er Jahre von Abidjan nach Paris. Zwischen Unabhängigkeit, Lohnarbeit, Herzschmerz und der Herausforderung, als alleinerziehender Elternteil ihren Kindern genügend Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteil werden zu lassen, entstehen Fugen, in denen sie immer wieder verschwindet. UN PETIT FRÈRE erzählt die sich über zwei Jahrzehnte erstreckende intime Geschichte einer Familie. Zeitsprünge und Perspektivenwechsel quer durch unterschiedliche Lebensabschnitte verdeutlichen die wechselhafte Beziehung zwischen den drei Protagonist_innen. In Schichten legt sich das Erleben der Figuren übereinander und ergibt ein teils dissonantes Bild einer komplexen, geteilten Erfahrungswelt. In berührenden Erzählgesten werden die Übergangszonen zwischen Aufwachsen, Zusammenleben und Auseinanderdriften erkundet. Nähe und Distanz auf engem Raum, zwischen der Metropole Paris und der Hafenstadt Rouen in der französischen Normandie. Subjektive Strategien im Bewältigen und Gestalten von Leben und Alltag, im Zeichnen einer Zukunft und im Streben nach Verbundenheit und Intimität. Ein Dreiergespann, das Formen von Gemeinschaft in stetiger Veränderung neu erfindet.

NAJSREЌNIOT ČOVEK NA SVETOT

Asja und Zoran, beide etwa Mitte vierzig, leben in Sarajevo und treffen einander an einem Samstagnachmittag bei einem Speed-Dating-Event in einem brutalistischen Hotelbau aus den 1980er Jahren. Ein Ausflug zu einem retro-futuristischen Ort, an dem eine retro-futuristische Veranstaltung stattfindet. In mehreren Runden stellen Paare einander unter Anleitung Fragen zu Lieblingsfarben und -geschmäckern sowie bevorzugten Jahreszeiten. In choreografierten Erzählbewegungen fallen Runde für Runde die persönlichen Schutzschichten der Teilnehmenden, unter denen schmerzhafte Erfahrungswelten aus ihrer Vergangenheit ans Tageslicht kommen. Gräben zwischen Betroffenheit und Schuld tun sich auf wie Kluften in der von 1992 bis 1996 für 1425 Tage belagerten Stadt Sarajevo. Basierend auf wahren Begebenheiten erzählt Teona Strugar Mitevskas Film von zufälligen Begegnungen, die die Traumata der Vergangenheit wieder aufleben lassen. NAJSREЌNIOT ČOVEK NA SVETOT ist eine Geschichte über die Unmöglichkeit, Verbindungen aufzubauen, über das amorphe Weiterwirken von Krieg, über Liebe und Absurdität. Ein filmisches Liebesgedicht an eine Stadt und deren offene Wunden.

THE TUBA THIEVES

Zwischen 2011 und 2013 verschwinden auf mysteriöse Weise Tubas aus Musikschulen in Los Angeles. Der Film begleitet Nyke Prince und Geovanny Marroquin, die fiktionalisierte Versionen ihrer selbst verkörpern, über die Jahre der Überfälle. In ihrem Debütfilm nähert sich Alison O’Daniel den Auswirkungen dieser Ereignisse aus einer unerwarteten Perspektive. Denn um gestohlene Tubas geht es eigentlich nicht, sondern vielmehr darum, was es bedeutet, zuzuhören. Die Geschichten der Protagonist_innen werden mit Reenactments von avantgardistischen Konzerten verschränkt, die „Stille“ zelebrieren – etwa John Cages 1952 uraufgeführtes Werk 4’33”. Den erzählerischen Faden zwischen Zeiten und Orten bildet nicht nur das Verhältnis von Gehörlosigkeit zur Musik, sondern auch ein Gefühl dafür, wie Menschen, Tiere, Pflanzen und die Umwelt durch Klang, Musik, Lärm und die Anwesenheit ihrer vermeintlichen Abwesenheit beeinflusst und verbunden sind. Aus dieser vielschichtig-hybriden Kinematografie entsteht ein warmherziges und ausgelassenes Porträt einer Gruppe an Gehörlosen Protagonist_innen in Los Angeles.

KOKOMO CITY

Morgenroutinen und Gespräche im Bett, Gossip und Real Talk. In Begegnungen und Interviews porträtiert D. Smith vier Schwarze trans* Sexarbeiterinnen in New York und Georgia. Ungeschönt und lustvoll erzählen die Protagonistinnen aus ihrem Leben. Dabei entzünden sich tiefgehende und leidenschaftliche Gespräche über verstrickte gesellschaftspolitische und soziale Realitäten genauso wie scharfe Analysen über Zugehörigkeit und Identität innerhalb der eigenen Communities. In eindringlichen Schwarz-Weiß-Bildern zu einem bewegten Soundtrack entsteht ein Flow an selbstbestimmten Inszenierungen, performativen Interventionen und assoziativen Collagen. Zwischen Stereotypisierung und Care, Gewalt und Fetischisierung, Begehren und Zugewandtheit werden hier die Beziehungsgeflechte zu Lovers, Freund_innen und Familien, zu Communities und Kontexten in all ihrer Komplexität und Ambiguität nachgezeichnet. KOKOMO CITY ist eine Wucht an widerständigen Erzählungen und lustvollen Kämpfen, die sich von Dominanzgesellschaften nicht gegeneinander ausspielen lassen.

LINGUI

Amina lebt mit ihrer 15-jährigen Tochter Maria in einem Vorort von N’Djamena. Durch Upcycling alter LKW-Reifen zu Feuerschalen verdient sie ihren Lebensunterhalt. Als Maria schwanger wird und sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschließt, ist Amina mit der Realität restriktiver Gesetzgebung und religiöser Verurteilung konfrontiert. Sie setzt alles daran, ihre Tochter dabei zu unterstützen, den bereits ihr selbst widerfahrenen Zyklus sexualisierter Gewalt zu durchbrechen und schlussendlich Rache zu üben, um an den strukturellen Mechanismen patriarchaler Vorherrschaft zu rütteln. LINGUI ist ein kraftvolles Plädoyer für Tatkraft und Resilienz angesichts widrigster Umstände. Mutter und Tochter erfahren Solidarität und Kinship durch den von Generation zu Generation weitergelebten Zusammenhalt unter Frauen im sozialen Gefüge, genannt Lingui, das heilige Band. (dp)

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Wegen Sturmwarnung konnte die Vorführung von LINGUI im Juli bei Kaleidoskop – Film und Freiluft am Karlsplatz 2022 leider nicht stattfinden. Wir freuen uns umso mehr, die Wien-Premiere des Films nun im Rahmen einer winterlichen Matinée im Filmcasino (Margaretenstr. 78, 1050 Wien) zu feiern.

Eintritt frei!
Freikarte reservieren: filmcasino.at/film/lingui/

Barrierefreiheit
• Barrierefreier Zugang
• Induktionsanlage für Träger_innen von Hörgeräten/-implantaten
• Werkseinführung mit Dolmetschung in Österreichische Gebärdensprache
• Film: Arabisch/Französisch mit englischen & deutschen Untertiteln für gehörlose und schwerhörige Menschen

Herzlichen Dank der Bezirksvorstehung & Kulturkommission Margareten und dem Filmcasino-Team für die Unterstützung!

NIGHT RAIDERS

CLOSING NIGHT

In einer dystopischen Zukunft sind in Nordamerika die demokratischen Gesellschaften zusammengebrochen. Kinder gelten als staatlicher Besitz. Sie werden von ihren Eltern getrennt und in Internaten zu Kämpfer_innen für das Militär-Regime ausgebildet. Niska hat mit ihrer elfjährigen Tochter Waseese bisher in der Wildnis überlebt. Als Waseese nach einer schweren Verletzung entdeckt und interniert wird, schließt Niska sich einer First-Nations-Untergrundorganisation an, die die entführten Kinder zurückholen will. Indessen lernt Waseese, in sich außergewöhnliche Kräfte zu entfesseln. Die kanadische Regisseurin und Drehbuchautorin Danis Goulet entwirft mit NIGHT RAIDERS eine ebenso verstörende wie poetische Parabel auf die Situation der First Nations in Nordamerika. In den Sprachen der Cree hält sie den an ihnen begangenen Verbrechen und der versuchten Auslöschung ihrer Kulturen eine packende universelle Erzählung über Resilienz, Mut und Liebe entgegen. (lm)

MONEYBOYS

Fei hat das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, zurückgelassen und verdient seinen Lebensunterhalt in Beijing als Sexarbeiter, als Moneyboy. In der Großstadt trauert er seiner ersten Liebe, seinem Mentor Xiaolai, nach und muss sich im Spannungsverhältnis zwischen vielfältigen Lebensentwürfen und ökonomischer Verantwortung für seine Familie behaupten. Die unerwartete Wiederbegegnung mit seinem Jugendfreund Long fordert das fragile Gleichgewicht heraus. In seinem ersten Langspielfilm gelingt es C.B. Yi mit kluger Beobachtungsgabe Feinheiten und Zwischentöne von Lebensentwürfen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft einzufangen. In langen visuell eindrucksvollen Einstellungen gibt MONEYBOYS Zeit zum Mitfühlen, erzählt explizit, lässt aber auch bewusst narrative Lücken und gibt so Raum für Imagination. (dp)