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GIVE ME LIBERTY

Milwaukee, USA. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, kämpft Fahrtendienstmitarbeiter Vic gegen die Umstände und die Zeit. Ausgerechnet an diesem ohnehin schon dichten Arbeitstag müssen sein aus Russland emigrierter Großvater und dessen Freund_innen zu einem Begräbnis chauffiert werden. Auch sie finden in Vics Kleinbus und in der improvisierten Zweckgemeinschaft Platz. Weil die Straßen auf ihrer üblichen Route aufgrund von Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt gesperrt sind, muss Vic umdenken. Im Versuch, das sich anbahnende Chaos zu kontrollieren, verzettelt er sich zunehmend in Verpflichtungen, Beschwichtigungen, Bedürfnissen der ihm anvertrauten Passagier_innen und eigenen Träumen. Kirill Mikhanovskys turbulentes wie berührendes Großstadt-Roadmovie GIVE ME LIBERTY ist eine kinetische Erfahrung von immenser Wucht und Wahrhaftigkeit. Die neue Route ist gesäumt von jenen kleinen magischen Momenten zwischenmenschlicher Begegnungen und Solidarität, die uns durch den Tag tragen – auch wenn man zunächst bereut hat, überhaupt aufgestanden zu sein. (lm)

MONEYBOYS

Fei hat das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, zurückgelassen und verdient seinen Lebensunterhalt in Beijing als Sexarbeiter, als Moneyboy. In der Großstadt trauert er seiner ersten Liebe, seinem Mentor Xiaolai, nach und muss sich im Spannungsverhältnis zwischen vielfältigen Lebensentwürfen und ökonomischer Verantwortung für seine Familie behaupten. Die unerwartete Wiederbegegnung mit seinem Jugendfreund Long fordert das fragile Gleichgewicht heraus. In seinem ersten Langspielfilm gelingt es C.B. Yi mit kluger Beobachtungsgabe Feinheiten und Zwischentöne von Lebensentwürfen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft einzufangen. In langen visuell eindrucksvollen Einstellungen gibt MONEYBOYS Zeit zum Mitfühlen, erzählt explizit, lässt aber auch bewusst narrative Lücken und gibt so Raum für Imagination. (dp)

FREDA

Inspiriert von persönlichen Erfahrungen, öffnet uns Gessica Généus mit ihrem Spielfilmdebüt die Türen zu einer Familiengeschichte inmitten des vibrierenden Port-au-Prince. FREDA zeichnet die Beziehung der gleichnamigen Protagonistin zu ihrer älteren Schwester Esther und zu ihrer alleinerziehenden Mutter Jeannette, deren Lebenseinstellungen und Aspirationen ans Leben völlig konträre Richtungen aufweisen. Die Komplexität wirtschaftlicher Herausforderungen, patriarchaler Gesellschaftsstrukturen und politischer Instabilität stellen das Bleiben in Frage. Allen Widrigkeiten zum Trotz kämpft Freda, deren Name auf die Vodou-Göttin für Liebe und Fülle verweist, kompromisslos und zielstrebig für eine Existenz in Haiti. Die dokumentarischen Aufnahmen der Proteste in den Straßen von Port-au-Prince von 2018 gegen die Veruntreuung von PetroCaribe-Erdöllieferungen geben dem sozialen Aufbegehren durch ihre Unmittelbarkeit ein Gesicht. (dp)

EL GRAN MOVIMIENTO

Nach einem siebentägigen Marsch erreichen drei Minenarbeiter die bolivianische Hauptstadt La Paz. Hier wollen sie sich den Arbeiter_innenprotesten anschließen, Arbeit suchen und eine neue Existenz aufbauen. Doch die Eindrücke sind überfordernd, die Perspektiven rar und einer von ihnen, Elder, erkrankt an einem heftigen Fieber. Um ihm zu helfen, wird ein Schamane gerufen. Dessen düstere Visionen vom Untergang La Paz’ und der Welt scheinen auf rätselhafte Weise verschränkt mit der Erkrankung des jungen Mannes. EL GRAN MOVIMIENTO ist ein fiebriges, auf 16-mm-Filmmaterial gedrehtes traumwandlerisches und oft rätselhaftes Werk, dessen Aufmerksamkeit jenen Unsichtbaren in der Stadt gehört, die ignoriert werden, bevor sie am Ende ganz verschwinden. In einer Zoom-Bewegung ins Innere dieser Stadt präsentiert sich La Paz als undurchsichtiges Netz von Verbindungen – einer rigiden Unterscheidung zwischen Arm und Reich und ungerechten Verteilung von Gütern, die eine noch viel umfassendere Heilung nötig machen. (lm)

UNCOMFORTABLY COMFORTABLE

Brooklyn, New York. Eine Vereinbarung zwischen Filmemacherin und Protagonist. Eine ständige Ausverhandlung von Nähe und Distanz. Textnachrichten und Notizen am Fahrradlenker, Verabredungen in der Bibliothek und gemeinsame Fahrten durch die Stadtlandschaft. Marc Thompson spricht über Unausweichlichkeiten in einem rassistischen System. Über die Funktion von Gefängnismauern, strukturelle Gewalt unsichtbar zu halten. Über das Stigma von Wohnungslosigkeit, die Scham über Vergangenes und das (Um-)Schreiben der eigenen Geschichte. Beobachtungen, prosaische Momente, Fragmente von Erinnerung und Traumata. Alleine in Bewegung. Routinen und Brüche – Rituale im Fitnesscenter, im Waschsalon, Autoreparaturen, ein kurzer Krankenhausaufenthalt. Sehnsucht – nach Verbindung, nach Teilhabe, nach Bewegung – nach Leben. Klar, ruhig und angespannt, inmitten einer lauten, schnellen Stadt. (dca)

RESIDUE

Jay kehrt nach Washington, D.C. zurück, um dort in der Nachbar_innenschaft seiner Kindheit ein Drehbuch zu entwickeln. Was bleibt übrig wenn man geht, was ist übrig wenn man wiederkommt? Wie lassen sich Erinnerungen und Fragmente von Vergangenem festhalten? In Schichten blenden Träume vom Zuhause der Kindheit, gegenwärtige und verdrängte Traumata ineinander. Eingeschrieben in eine Straße – Suchbewegungen, politische Dringlichkeiten und Gewalt. Gentrifizierung. Die Stadt in Veränderung. Entrückt und verschoben. Ein Versuch zu fassen, was nicht mehr zurückzuholen ist. Angetrieben von der Sehnsucht nach Verortung. Filme über Filme machen um in einer Dichte des Spezifischen Bilder für ein großes Ganzen zu finden. Bruchstückhaft, zwischen schillernden Momenten und Schmerz. Merawi Gerima gelingt mit seinem eindrucksvollen Spielfilmdebüt ein Einblick in die Erfahrungsdimensionen seines Protagonisten, dessen persönliche Motivation einer Rückkehr in die Kindheit von politischen Realitäten im Jetzt eingeholt wird. (dca)

ATLANTIQUE

Dakar, zwischen Skeletten futuristischer Luxusbauten und der Realität der Arbeitssuchenden in der Baubranche. Ada, die den wohlhabenden Omar heiraten soll, wird heimgesucht von ihrem Geliebten Souleiman, der als unbezahlter Bauarbeiter bei der Überfahrt über den Atlantik auf offener See mit anderen Wirtschaftsflüchtenden ums Leben gekommen ist. Auf hypnotisch-fesselnde Weise erzählt Mati Diop die Geschichten jener Frauen die geblieben sind: Mütter, Schwestern und Geliebte jener um ihre Löhne geprellten Arbeitssuchenden, die in ihrem Migrationsbestreben an der verheerenden Asymmetrie globaler Migrationspolitik gescheitert sind. Ihre in Unfrieden von dieser Welt gegangenen Geister hallen nach. In einem kollektiven Akt begehren die trauernden Frauen auf gegen die kolossale Ungerechtigkeit und verlangen, dass die offene Rechnung von jenen beglichen wird, die die Verschärfung des sozialen Gefälles durch ihr Machtstreben zu verschulden haben. (dp)