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GIVE ME LIBERTY

Milwaukee, USA. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, kämpft Fahrtendienstmitarbeiter Vic gegen die Umstände und die Zeit. Ausgerechnet an diesem ohnehin schon dichten Arbeitstag müssen sein aus Russland emigrierter Großvater und dessen Freund_innen zu einem Begräbnis chauffiert werden. Auch sie finden in Vics Kleinbus und in der improvisierten Zweckgemeinschaft Platz. Weil die Straßen auf ihrer üblichen Route aufgrund von Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt gesperrt sind, muss Vic umdenken. Im Versuch, das sich anbahnende Chaos zu kontrollieren, verzettelt er sich zunehmend in Verpflichtungen, Beschwichtigungen, Bedürfnissen der ihm anvertrauten Passagier_innen und eigenen Träumen. Kirill Mikhanovskys turbulentes wie berührendes Großstadt-Roadmovie GIVE ME LIBERTY ist eine kinetische Erfahrung von immenser Wucht und Wahrhaftigkeit. Die neue Route ist gesäumt von jenen kleinen magischen Momenten zwischenmenschlicher Begegnungen und Solidarität, die uns durch den Tag tragen – auch wenn man zunächst bereut hat, überhaupt aufgestanden zu sein. (lm)

MONEYBOYS

Fei hat das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, zurückgelassen und verdient seinen Lebensunterhalt in Beijing als Sexarbeiter, als Moneyboy. In der Großstadt trauert er seiner ersten Liebe, seinem Mentor Xiaolai, nach und muss sich im Spannungsverhältnis zwischen vielfältigen Lebensentwürfen und ökonomischer Verantwortung für seine Familie behaupten. Die unerwartete Wiederbegegnung mit seinem Jugendfreund Long fordert das fragile Gleichgewicht heraus. In seinem ersten Langspielfilm gelingt es C.B. Yi mit kluger Beobachtungsgabe Feinheiten und Zwischentöne von Lebensentwürfen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft einzufangen. In langen visuell eindrucksvollen Einstellungen gibt MONEYBOYS Zeit zum Mitfühlen, erzählt explizit, lässt aber auch bewusst narrative Lücken und gibt so Raum für Imagination. (dp)

EUROPE

Krankenhaus. Post. Schwimmbad. Nächste Haltestelle: Europe, eine Siedlung am Stadtrand von Châtellerault. Das Leben von Zohra spielt sich genau dort ab, zwischen ihrer Wohnung, dem Kebabladen und Familienbesuchen in Europe, dem Krankenhaus und dem Pool. Es ist Sommer, die Straßen sind leer, es ist Urlaubszeit in Frankreich. Die Sonne heizt den Asphalt auf und der Pool bringt nicht nur Erfrischung. Die ersehnte Reise nach Algerien und das Visum ihres Mannes Hocine müssen warten. Zohra bekommt keine Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung und verliert ihre Arbeit und ihre Wohnung. Die Perspektive wechselt und Zohra ringt damit, die gelebte Normalität zurückzuholen und aus der Unsichtbarkeit aufzutauchen. Im Kampf um einen Platz in Europa lassen imaginierte Zukunftsszenarien sie auf geisterhafte Weise transparent werden. (mch)

BEATRIX

Beatrix verbringt den Sommer im Garten, in einem Haus am Stadtrand. Flirrende Hitze, Sonne auf der Haut, in der Hand ein Gartenschlauch. Zehen in der Luft und Weintrauben im Bauchnabel. Allein mit sich, nicht ganz, aber doch. Nichts tun, oder eben irgendetwas tun. Zähneputzen, in der Wiese liegen, ausziehen, umziehen. Manchmal kommt jemand vorbei. Sein ist irgendwie leicht und zugleich auch anstrengend. Auch wenn nicht wirklich viel passiert, passiert immer etwas. Am Himmel ziehen Wolken vorbei und vielleicht kitzelt das Gras im Rücken. Die Zeit zieht sich wie ein Kaugummi. Dosenpfirsich, Palatschinken und die Angst vor der Unendlichkeit. Im Teletext blitzt die Welt hinein und ins Außen wird übers Telefon gefunkt. Berührt wird alles und nichts, weil alles schön, lustig und seltsam nichtig zugleich ist. Entschleunigt und rätselhaft erzählt sich das Leben in den Tag. In traumnahen, präzisen Bildern entsteht ein fragiles und dennoch gewichtiges Gefüge zwischen Körper und Raum, in dem sich Möglichkeiten von Intimität und Erzählung offenbaren. (dca)

DIDA

Ein charmant chaotisches Hin und Her, zwischen Belgrad und der Schweiz. Hier Mutter und Großmutter, dort Partner_innenschaft und ein großer Teil des eigenen Seins. Alltag zwischen unterschiedlichen Städten, Bedürfnissen und Geschwindigkeiten. Nachdem die Großmutter, die ihr Leben lang für seine Mutter Sorge trug, in Belgrad stirbt, verschieben sich für Nikola Verantwortlichkeiten und Prioritäten. Ausgeschnapst werden nun Bedingungen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, die der eigenen und die von Dida, Nikolas Mutter. Grenzgänge im ständigen Scheitern und Nachjustieren. Die Beteiligten verlieren dabei zwar nie Liebe und Witz, aber manchmal kurz sich selbst. Videotelefonate und Schnaps am Grab. Wohnungswechsel, ein rotes Sofa, Fleecedeckentürme, ein Babyhund und Dekokram. Stetig wird im Familiengefüge umdekoriert auf der ewigen Baustelle Leben. (dca)

QUE DIEU TE PROTÈGE

In den 1960er Jahren migrierten die jüdischen Großeltern der Filmemacherin Cléo Cohen von Algerien und Tunesien nach Frankreich. In ihrem Debütfilm QUE DIEU TE PROTÈGE begibt sie sich auf Spurensuche in ihrer eigenen Familiengeschichte, um der Frage auf den Grund zu gehen, ob sie sich entscheiden muss zwischen jüdischem und arabischem kulturellen Erbe. Mit einer gehörigen Portion Humor dokumentiert Cléo Cohen die Gespräche mit ihren vier Großeltern, die weit weniger auskunftsfreudig sind als erhofft und den Enthusiasmus der Enkelin kaum erwidern. Ihre Suche, durch die sie sich zeitweise in Gedanken, in den Schriften von Albert Memmi zu Dekolonisierung, in der Badewanne und in Tanzsequenzen treiben lässt, führt die Filmemacherin schlussendlich in ein völlig verändertes Tunis, wo sie nicht das vorfindet, was ihre Großmutter zurückgelassen hat. (dp)

MIDNIGHT FAMILY

Den neun Millionen Menschen, die in in Mexiko-Stadt leben, stehen nur 45 staatliche Rettungswägen zur Verfügung. Aus dem dysfunktionalen staatlichen Gesundheitssystem ist ein Parallelsystem entwachsen, in dem das Retten von Menschenleben – ohne Ausbildung und Lizenz – ein Geschäftsmodell für Menschen ist, die dabei selbst um ihr Überleben kämpfen. In seinem Dokumentarfilm folgt Luke Lorentzen einer Familie, die einen solchen privaten Rettungswagen betreibt, in schwindelerregenden Nachtfahrten mit erhöhtem Puls durch die verstopften Straßen der Metropole. Unter den Ambulanzfahrer_innen herrscht großer Konkurrenzdruck, Korruption und Bestechung sind Teil eines vom systemimmanenten Mangel geprägten Alltags. Es ist ein Kampf, der die Protagonist_innen täglich an ihre Grenzen bringt, aufgerieben im wirtschaftlichen und moralischen Prekariat.

LUSALA

Als Kind wurde Lusala von einer wohlhabenden Familie adoptiert. Mit dem Umzug in seine eigene Wohnung und der neuen Selbständigkeit als Mechaniker beginnt für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Doch anstatt als junger Erwachsener Zukunftspläne zu schmieden, muss sich Lusala seinem Innenleben stellen. Zunehmend wird er von traumatischen Erinnerungen an Gewalterfahrungen in seiner Kindheit eingeholt. Die Fragilität und Zerrissenheit Lusalas lässt das Storytelling zwischen dem Austragen innerer Kämpfe und der Auseinandersetzung mit den Geistern der Vergangenheit oszillieren. In seinem Regiedebüt berührt Mugambi Nthiga die emotionalen Tiefen einer Metropole. LUSALA erzählt von patriarchalen Gewaltstrukturen, klassenqueren Familiengefügen, Konstruktionen von Männlichkeit und der Verletzlichkeit im Erwachsenwerden.

A FEBRE

Justino arbeitet im Sicherheitsdienst im Hafen Manaus, seine Tochter Vanessa ist entschlossen, ein Medizinstudium zu absolvieren. In der urbanen Amazonasregion scheint der Erinnerungskosmos Justinos als Desana-Indigenous längst verblasst zu sein, bis er von einem un­erklärlichen Fieber und Traumzuständen heimgesucht wird. Auf seinem nächtlichen Heimweg durch die Stadt in das abgelegene Zuhause begegnet er einem geheimnisvollen Raubtier, dessen vage Erscheinungsform Zwischenwelten von Realem und Imaginiertem öffnet. Mit ihrem einfühlsamen und spannungsgeladenen Spielfilmdebüt schafft Maya Da-Rin großes Erzählkino. A FEBRE erzählt von zurückgelassener Vergangenheit und spiritueller Kraft als poetische Wegbegleiterin. Tiefgründige Bildkomposition und durchdachtes Sound Design verknüpfen Traum, Krankheit und die Komplexität von harter Arbeitsrealität und prekärem Gesundheitssystem.